31.10.2025 • von Jonas Kellermeyer

Hochgradig vernetzt – aber bitter einsam

Grüne Kachel mit dekorativer Grafik

Wenige Themen treiben uns so sehr um, wie der Zusammenhang zwischen der Entwicklung technologischer Neuerungen und etwaiger psycho-sozialer Folgen. Allen voran interessiert uns heute das paradox anmutende Verhältnis von Vereinsamung in einer Welt, in der soziale Kontakte gemeinhin nur einen Klick entfernt sind. Vielleicht liegt der eigentliche Fortschritt nicht in der Vernetzung, sondern in der Art, wie wir ihr standhalten.

Das Paradox der Nähe

Noch nie waren wir so erreichbar, so sichtbar, so verbunden – und doch scheint die Einsamkeit zuzunehmen. Studien zeigen, dass Menschen, die täglich mehrere Stunden in sozialen Netzwerken verbringen, häufiger über Isolation und emotionale Erschöpfung klagen. Die Soziologin Sherry Turkle (2011) sprach bereits vor über einem Jahrzehnt von einer “Illusion der Gemeinschaft” – einer Welt, in der wir alleine zusammen sind.
Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit gab es die Möglichkeit sich gleichzeitig so nah und doch so fern zu sein. Die Bedeutung der Nähe verändert sich im Angesicht des Digitalen von einem Konzept der physischen Proximität zu einem diskursiven Verhältnis hinsichtlich geteilter Meinungen: Man kann sich etwa mit seinen unmittelbaren Nachbarn im Streit befinden, seine wahren Verbündeten hingegen in weitgehend anonymen Onlineforen finden. Sogenannte Echo Chambers tragen dazu bei, dass sich Parallelöffentlichkeiten ausbilden: diese Basen teilen “den porösen Charakter der Offenheit für weitere Vernetzungen; gleichzeitig unterscheiden sie sich jedoch vom grundsätzlich inklusive Charakter der Öffentlichkeit […] durch die Abwehr dissonanter und die assimilierende Einbeziehung Konsonanten Stimmen in den eigenen, identitätswahrend begrenzten Horizont” (Habermas 2022: 62 f.)

Digitale Kommunikation hat vieles möglich gemacht, aber eines kaum ersetzt: die Erfahrung von Präsenz. Aus der Begegnung wurde der Feed, aus dem Gespräch die Nachricht, aus Nähe ein Interface. Soziale Interaktion wurde quantifiziert – sie lässt sich zählen, liken, speichern. Doch was messbar ist, ist nicht zwangsläufig bedeutungsvoll.

Zwischen Dopamin und Dissonanz

Jede Benachrichtigung, jeder Like, jede Antwort aktiviert das Belohnungssystem unseres Gehirns. Zunehmend verwechseln wir Reiz mit Resonanz, Aktivität mit Beziehung und Sympathie mit Empathie. Das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck einer anthropologischen Konstante: dem Wunsch, gesehen zu werden, die eigene Wirksamkeit zum Ausdruck zu bringen und einen spürbaren Unterschied zu machen, auf den man sich mit stolz geschwellter Brust berufen kann.
Doch was passiert, wenn dieses Sehen in einem eint enden wollenden Zerrspiegelkabinett stattfindet? Wenn Aktionen Reaktionen hervorrufen, doch keine wahrhaftige Auflösung in Form eines gefundenen Konsenses in Aussicht steht, sondern lediglich sich weiterhin verhärtende Fronten?
Digitale Netzwerke erzeugen Resonanzen ohne Tiefe. Wenn Signale gesendet und empfangen werden, sind diese zwar aufeinander abgestimmt, aber selten aufeinander bezogen. D.h. Beziehungsbildung findet in einer ziemlich primitiven Form statt, starke schwarz/weiß-Kontraste sind an der Tagesordnung und die nuancierten Zwischentöne werden geflissentlich überhört. So entsteht eine neue Form sozialer Dissonanz: Wir wissen mehr voneinander, aber verstehen uns weniger, wollen einander mitunter gar nicht verstehen, denn: die Realität der Echo Chambers gaukelt uns vor, es bestünde die Möglichkeit, kompromisslos durchzuregieren.

Technologie als Zerrspiegel der Sehnsucht

Technologie erfüllt seit jeher zwei Wünsche: den nach schöpferische Kontrolle über den eigenen Einfluss und den nach Verbindung. Technologische Innovation soll uns helfen, Grenzen zu überwinden, aber auch, uns selbst zu genügen. Künstliche Intelligenz, Chatbots oder soziale Companion-Systeme wie Replika bedienen diese doppelte Sehnsucht in der Gegenwart geradezu perfekt. Sie sind verfügbar, geduldig, scheinbar urteilsfrei – und simulieren das, was uns im Alltag zunehmend fehlt: ungeteilte Aufmerksamkeit.
Doch diese Art von Beziehung ist asymmetrisch. Sie gibt, ohne etwas zu fordern. Sie tröstet, ohne zu widersprechen. Sie spiegelt, ohne dabei offen zu irritieren. Und genau darin liegt ihr Risiko: Je perfekter die Zuwendung der Maschine wird, desto weniger trauen wir uns, echte Nähe zuzulassen. Denn, dass wir mit unseren idiosynkratischen Verhaltensweisen und gehegten Glaubensgrundsätzen potenziell anecken können, steht gemeinhin außer Frage.
Die Psychologie kennt dafür ein einfaches Prinzip: Wir lernen durch Reibung. Was uns nicht fordert, verändert uns nicht. Entsprechend stumpfen wir im Umgang mit devoter Technologie, die soziale Kompetenz simuliert, immer stärker ab.

 Einsamkeit als Struktur, nicht als Zustand

Einsamkeit ist kein individuelles Versagen. Sie ist heute mehr denn je eine strukturelle Folge einer Gesellschaft, die Effizienz über Erfahrung stellt. Wir haben gelernt, Arbeit, Kommunikation und Emotion zu optimieren – doch je reibungsloser diese Abläufe werden, desto weniger Raum bleibt für Unschärfe, Zufall, Zuwendung. Wir alle brauchen Zeit für uns, klar, aber ein solch selbstgewähltes Alleinsein ist klar von einer tiefgreifenden Einsamkeit zu scheiden: diese ist eine dauerhafte Zumutung während es sich bei jener um eine bewusste Entscheidung auf Zeit handelt. Remote Work, algorithmische Kuration unserer individuellen News-Feeds, digitale Filterblasen – all das schafft Komfort, aber sorgt eben auch für Distanz. Wir leben in Netzwerken, die vieles können, außer Intimität. Dabei ist gerade Intimität das, was uns als soziale Wesen zusammenhält.
Der Soziologe Hartmut Rosa (2016) beschreibt Resonanz als “Antwortbeziehung zur Welt” (182), in der wir uns wortwörtlich mit Haut und Haaren befinden. Wenn nichts mehr zurückspricht, wir keine Gegenrede erfahren und unseren als fix imaginierten Standpunkt reflexiv zu hinterfragen lernen, verlieren wir auch die Fähigkeit, uns berühren zu lassen.

Zwischen Interface und Intimität

Die Frage ist also nicht, ob Technologie uns einsam macht, sondern: Wie gestalten wir sie, damit sie Nähe ermöglicht? Design, verstanden als kulturelle Praxis, könnte hier eine zentrale Rolle spielen. Ein empathisches Interface wäre ein solches, das nicht nur reagiert, sondern zuhört. Eine KI, die Beziehung nicht imitiert, sondern sie inspiriert. Es geht um reflexive Erweiterungen, nicht um die Illusion von Companionship.
Empathic Design, Age-Conscious Design, Human-Tech Futures – all diese Konzepte deuten in dieselbe Richtung: weg von der Technik als reines Mittel zum Zweck, hin zu Technologie als Beziehungsermöglicher. Es geht nicht um weniger Vernetzung, sondern darum, eine andere Qualität von Verbindung zu erreichen.

 Empathic Design und Affective Computing – Wenn Maschinen fühlen lernen

Empathie ist kein technologischer Sachverhalt, sondern eine Haltung. Und doch versuchen wir seit Jahren, sie technisch zu reproduzieren. Der Begriff Affective Computing, geprägt von Rosalind Picard  (1996) am MIT, beschreibt den Versuch, Maschinen beizubringen, menschliche Emotionen zu erkennen, zu interpretieren und darauf zu reagieren. Herzfrequenz, Stimmfarbe, Gesichtsausdruck – Signale, die einst der Intuition vorbehalten waren, gerieren sich als messbar und/oder modellierbar.
Doch Empathie entsteht nicht durch das Erkennen von Gefühlen, sondern durch die Fähigkeit, sie zu teilen und auf ihrer Basis zu reflektieren. Genau hier setzt Empathic Design an: Es geht weniger darum, Technologie emotional aufzuladen, als vielmehr darum, sie responsiv zu gestalten – im Sinne einer Beziehung, die auf Resonanz und Rückkopplung beruht.
Ein empathisches Interface fragt nicht nur nach dem “wie”, sondern gerade nach dem “warum”, das sich hinter einer Handlung verbirgt. Es erkennt, wann eine Pause wichtiger ist als eine Antwort, wann Stille mehr Verbindung schafft als Sprache. In einer Welt, in der Algorithmen zunehmend über Aufmerksamkeit entscheiden, ist das vielleicht der radikalste Gedanke überhaupt: dass Maschinen nicht nur reagieren, sondern zurückhalten können. Paul Watzlawicks berühmtes Diktum, dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, erfährt in diesem Sinne eine regelrechte Rennaissance.
Die Verbindung von Affective Computing und Empathic Design ist unterdessen wahrhaft tiefgreifend: der Vergleich von hard- und Software bietet sich geradezu an. Erst in ihrer Verbindung entsteht die Chance, Technologie so zu denken, dass sie wirksam wird. Nicht länger wird so die Distanz verstärkt, sondern vielmehr geht es darum, Verständnis zu forcieren. Das Ziel ist nicht, Maschinen menschlich zu machen oder, vice versa, Menschen zu Maschinen zu verklären. Es geht letztlich darum, die Gräben zu überwinden und technologischen Mechanismen Zugang zu sozialen Prozessen zu gewähren, in denen sie zwar sie selbst bleiben, aber als Partner in Erscheinung zu treten vermögen.in einer Beziehung, die auf Achtsamkeit statt auf Optimierung beruht.
Der Kern der Intelligenz liegt wahrhaftig nicht in der Berechnung und Quantifizierung von emotionalen Sachverhalten, sondern ganz im Gegenteil, in einem Umgang mit ihnen, der die Grenzen der Verständnis anerkennt und mit einem entsprechenden Unwissen umzugehen weiß.

Die Zukunft der Verbindung

Vielleicht liegt die Zukunft digitaler Systeme darin, Zufall wieder zuzulassen – das Ungeplante, das Unsichere, das Menschliche – ja, letzen Endes die Leerstelle als etwas anzuerkennen, das einen Mehrwert bietet.
Technologie wird nicht menschlicher, weil sie Emotionen simuliert, sondern weil sie Ambivalenz und Ambiguitäten aushält. Wollen wir tatsächlich in engen Austausch mit technologischen Akteuren treten, so muss dies unter einem anderen Vorzeichen stattfinden, als zwischenmenschliche Begegnungen.

Bei den Taikonauten wissen wir, wie man der Zukunft nachhaltig begegnet. Im Rahmen unseres R&D Labs haben wir in der Vergangenheit bereits bewiesen, wie wir uns Zukunftsthemen zuwenden: nämlich mit forschendem Eifer und entsprechender Neugier. Dass jede Untersuchung methodischen Ansprüchen zu genügen hat, ist selbstredend Teil dieser Wahrheit.

Die übergreifende Aufgabe für Forschung, Design und Politik besteht darin, Räume zu schaffen, in denen digitale Kommunikation wieder etwas hervorbringt, das jenseits von Funktion liegt: nachhaltiges Vertrauen. Denn Vertrauen ist das, was entsteht, wenn Systeme nicht perfekt sind, sondern nachvollziehbare Schwächen aufweisen, die man bei sich selbst ebenfalls am Werk erkennt. Vertrauen wird gerade dann notwendig, wenn man keine Gewissheit hat bzw. keine solche haben kann. Um für ein Mehr an Vertrauen zu sorgen, sind wir in unserem R&D Lab darum bemüht, neue Technologien und entsprechende Verfahrensweisen zu untersuchen, mit ihnen zu experimentieren und das Zusammenspiel zwischen technologischer Welt und Soziosphäre nachhaltig zu verstehen.

Fazit – Das Ende der Einsamkeit?

Einsamkeit ist nicht das Gegenteil von Vernetzung, sondern ihr stets mitlaufender Schatten. Genauso wichtig ist es, unfreiwillige Einsamkeit von bewusstem Alleinsein zu scheiden. Je komplexer unsere technischen Systeme werden, desto wichtiger wird das Einfache: Zuhören, Aufmerksamkeit, Gegenwart. Zwischen Notification und Stille liegt das, was uns wirklich verbindet – nicht Daten, sondern idiosynkratische Bedeutung.
Vielleicht beginnt dort, wo wir wieder lernen, die Welt nicht nur zu teilen, sondern zu empfinden, das Ende der digitalen Einsamkeit. Zumindest aber liegt ein wesentlicher Teil des zwischenmenschlichen Miteinanders in unserem Verhältnis zur Technologie begründet. Deshalb ist es umso wichtiger, ihre tatsächliche Ausgestaltung im Auge zu behalten und sich vorsichtig wohl aber beständig mit dem Fortschritt zu befassen.

Literatur

Habermas, Jürgen (2022): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und deliberative Politik. Suhrkamp Verlag, Berlin.

Picard, Rosalind (1996): Affective Computing. The MIT Press, Cambridge Massachusetts.

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp Verlag, Berlin.

Turkle, Sherry (2011): Alone Together. Why We Expect More From Technology And Less From Each Other. Basic Books, New York.

Über den Autor

Jonas ist Kommunikationsexperte und zeichnet sich seinerseits verantwortlich für die sprachliche Darstellung der Taikonauten, sowie hinsichtlich aller öffentlichkeitswirksamen R&D-Inhalte. Nach einiger Zeit in der universitären Forschungslandschaft ist er angetreten, seinen Horizont ebenso stetig zu erweitern wie seinen Wortschatz.

Lachender junger Mann mit Brille