23.06.2025 • von Jonas Kellermeyer
Ein Hoch auf die techno-soziale Solidarität!

Wir leben in einer Welt, die sich maßgeblich durch ein hohes Maß an Kohabitation auszeichnet: nicht nur teilen wir den Planeten mit rund 8 Milliarden Artgenossen und unzähligen anderen kohlenstoffbasierten Lebewesen, hinzu kommen in jüngerer Vergangenheit auch noch Myriaden an künstlich intelligenten Aktanten, die ihre jeweilige Nische besetzen. Um ein harmonisches Miteinander zu garantieren, plädieren wir an dieser Stelle für eine neue Form der techno-sozialen Solidarität.
Was wir meinen, wenn wir von techno-sozialer Solidarität sprechen
Analog zum Konzept gelebter Solidarität unter Mitmenschen geht es hierbei um eine Art und Weise, für die Interessen technologischer Gadgets und anderer Kohabitanten einzutreten: dass dies letztlich geschieht, um sich mit den menschlichen Nutzer:innen empathisch zu zeigen, ist ein Aspekt der Wahrheit, den man nicht unterschlagen sollte. Techno-soziale Solidarität bedeutet daher nicht bloß, Geräte wie Smartphones, KI-Agenten oder autonome Systeme zu tolerieren, sondern sie bewusst in der Mitte unserer Gemeinschaft willkommen zu heißen, sie einzubeziehen und in ihren „Bedürfnisses“ letztlich ein Spiegelbild unserer eigenen Gewohnheiten zu erkennen: "Im Grunde ist jedes Objekt, vom Faustkeil über das Fell, den Stuhl und das Fahrrad bis zum Phasenprüfer und Smartphone ein technisches Objekt der Herstellung von Einfachheit an der Schnittstelle von Black Boxes, hinreichend komplexen Einheiten" (Baecker 2018: 184). Es ist ein Teil unserer kollektive Verantwortung, eine Integration dieser Dinge vorzunehmen. Das impliziert, dass wir nicht nur Verbraucher:innen sind, die Technologie konsumieren, sondern Ko-Partner:innen, die Technologie gestalten, nutzen – und sie manchmal eben auch (vor sich selber) schützen.
Warum gerade jetzt ein Aufruf zur techno-sozialen Solidarität nötig ist
In den vergangenen Jahren hat sich das Verhältnis von Menschen zu Maschinen radikal verändert: Die Technik “antwortet nicht mehr allein auf natürliche Unzulänglichkeiten, sie produziert ihre eigenen Erwartungen und sucht auf Forderungen zu antworten, die aus ihr selbst kommen” (Nancy 2011: 55). Künstliche Intelligenz erkennt mittlerweile selbstständig Gesichter und Sprachmuster, stellt entsprechende Diagnosen an und kommuniziert in weitgehend natürlicher Art und Weise mit menschlichen Nutzer:innen. Roboter übernehmen unterdessen monotone oder gefährliche Arbeiten; digitale Plattformen fungieren vermehrt als Vermittler zwischen uns und fast allen Bereichen unseres Lebens – vom Autokauf bis zur Zwischenvermietung. Doch während wir uns zunehmend auf technoide Aktanten verlassen, vernachlässigen wir leicht ihre “Interessen” – seien es algorithmische Fairness, Datenschutz oder ressourcenschonende Hardware.
In diesem Spannungsfeld drohen zwei Probleme: Erstens verhärten sich Vorurteile und Ängste gegenüber allem, was nicht "rein menschlich” ist, was in Form von regelrechtem Misstrauen gegenüber KI und einer grassierenden Technologie-Skepsis kulminiert. Zweitens riskieren wir, unbedacht von Tech-Konzernen und Programmierer:innen abhängig zu werden, die womöglich Profitinteressen über das Gemeinwohl stellen. Techno-soziale Solidarität soll diesen beiden Extremen entgegenwirken: Sie fördert einen kritischen, zugleich aber auch integrativen Ansatz, der Mensch und Maschine gleichermaßen ernst nimmt. Es ist letzten Endes so, wie bereits Martin Heidegger es anzumerken wusste: “Das Gefährliche ist nicht die Technik. Es gibt keine Dämonie der Technik, wohl aber das Geheimnis ihres Wesen” (Heidegger 1953: 29). Wenn wir also feststellen, dass “[t]echnische Objekte [...] mitten unter uns [sind]” (Baecker 2018: 184), ja, dass sie unsere Lebenswelt nicht nur bereichern, sondern sie in vielerlei Hinsicht überhaupt erst hervorbringen, dann erscheint es nur logisch, ihnen eine Daseinsweise zu garantieren, die ihnen dabei hilft, uns zu helfen. In seinem Werk Die Existenzweise technischer Objekte zeigte Gilbert Simondon bereits in den 1950er Jahren, dass diese unsere Lebenswelt eben immer auch die Welt ist, in der sich technische Objekte ansiedeln, ja, in der sie sukzessive heimisch werden bzw. geworden sind (vgl. Simondon 2012).
Die Prinzipien techno-sozialer Solidarität
Wenn wir bis hierher lediglich die Gründe genannt haben, aus denen eine techno-soziale Solidarität Sinn ergibt, soll es im nun folgenden Abschnitt um die konkreten Prinzipien gehen, auf denen eine solche wirklich fußen könnte.
Partizipation und Transparenz
Anstatt Technologie als fertige “Black Box” zu akzeptieren, sollten wir uns dafür einsetzen, dass Algorithmen, KI-Modelle und Softwaresysteme offen gelegt oder zumindest nachvollziehbar werden. Transparenz schafft Vertrauen: Wenn wir verstehen, wie eine Gesichtserkennungssoftware funktioniert oder auf welcher Datenbasis ein Empfehlungsalgorithmus operiert, können wir mögliche Verzerrungen erkennen und gemeinsam gegensteuern. Das Recht auf Erklärbarkeit, das im AI-Act der EU festgeschrieben ist, kann als erster Schritt in diese Richtung gelesen werden: Um zu einer wahrhaft kooperativen Zukunft zu gelangen, in der Menschen durch technologische Akteure in ihrer Entscheidungsfindung unterstützt werden können, bedarf es zumindest der potenziellen Möglichkeit einer Einsicht in die Datenbasis, die einem Votum zugrunde liegt.
Fairness und Inklusion
Techno-soziale Solidarität verlangt weiterhin, dass wir uns solidarisch mit denjenigen menschlichen “Akteur:innen” zeigen, die im digitalen Ökosystem benachteiligt sind – seien es marginalisierte Communities, die unter algorithmischen Biases leiden, oder ältere Menschen, die Schwierigkeiten haben, mit neuen Interfaces umzugehen. Indem wir inklusive Zugangsbarrieren reduzieren und offene Standards fördern, können wir verhindern, dass Technologie neue Klassenschranken oder digitale Kluften verfestigt. Es ist also auch und gerade eine soziale Frage, die durchscheint und die zu beantworten es notwendig erscheinen lässt, technologische Wahrnehmungsweisen als das anzunehmen, was sie sind: nämlich weltkonstituierende Umstände!
Ökologische Nachhaltigkeit und Ressourcenbewusstsein
Algorithmen sind energiehungrig und auch die Produktion von Hardware hinterlässt ökologische Spuren (vgl. Bratton 2016: 75 ff.). Eine generell solidarische Haltung umfasst daher auch ökologische Verantwortung: Wir sollten uns dafür einsetzen, dass Rechenzentren erneuerbare Energien nutzen, dass Hardware längerfristig gewartet und recycelt wird und dass Software-Updates nicht zur Obsoleszenz ganzer Gerätegenerationen führen. Nicht nur um unserer Überleben selbst Willen ist ein ökologisch nachhaltiges Handeln dringend geboten, auch um sicherzustellen, dass Prozesse und Kreisläufe, die abhängig von technologischem Sensing sind, reibungslos weiter funktionieren, ist es wichtig, einen techno-sozial solidarischen Beitrag zu leisten.
Gemeinsame Verantwortlichkeit
In einer techno-sozialen solidarischen Gemeinschaft nimmt jede:r eine aktive Rolle ein: Entwickler:innen, Nutzer:innen, Politiker:innen und Wirtschaftstreibende tragen gleichermassen Verantwortung für die Ausgestaltung technischer Systeme. Niemand darf sich einfach nur zurücklehnen – weder die Tech-Industrie noch die Endverbraucher:innen – und auch immer fähigere KI-Algorithmen müssen konsequent in die Verantwortung genommen werden. Wem Solidarität zuteil wird, der hat im Umkehrschluss auch die ethisch-moralische Pflicht, sich entsprechend zu verhalten. Im Falle von technologisch grundierten “Aktanten” heißt dies, dass sie eben nicht als die “Black Boxes”, die sie derzeit häufig (noch) sind akzeptiert werden, sondern, dass man alles menschenmögliche tut, sie aufzubohren und ein immer besseres Verständnis ihrer jeweiligen Funktionsweise erhält. Nur so lassen sich demokratische Grundwerte adäquat gegen ihre vielzähligen Gegner verteidigen (vgl. Harari 2024: 421 ff.).
Wie techno-soziale Solidarität im Alltag aussehen kann
Um zum Abschluss dieses theoretischen Deep Dives noch einige praktische Punkte abzuhandeln, wollen wir uns exemplarisch mit konkreten Handlungsempfehlungen befassen, die allesamt auf die eine oder andere Weise auf eine techno-soziale Solidarität einzuzahlen vermögen.
1. Offene Datenkooperativen: Bürger:innen, Kommunen und Organisationen bündeln ihre Datensätze in dezentralen Kooperativen, auf die KI-Entwickler:innen unter Fair-Use-Kriterien zugreifen können. Das verhindert, dass Datenmonopole entstehen, und ermöglicht partizipative Technologie-Entwicklung.
2. Community-basierte Algorithmus-Audits: Freiwillige aus unterschiedlichen Fachrichtungen – Informatiker:innen, Jurist:innen, Sozial- und Geisteswissenschaftler:innen – prüfen regelmäßig populäre Algorithmen auf Verzerrungen und implizite Diskriminierung. Erkenntnisse werden öffentlich dokumentiert und an die entsprechenden Entwickler:innen zurückgespielt.
3. Techno-Mentor:innenprogramme: Ältere Menschen, Menschen mit einer Beeinträchtigung oder bildungsferne Gruppen erhalten Pat:innen, die sie im Umgang mit digitalen Tools anleiten und so Inklusion leben. Im Gegenzug geben die Mentees Rückmeldung über erfahrene Benutzerfreundlichkeit und aufgetretene Hürden.
4. Lokale Repair-Cafés für Hardware: Eine Community-Initiative bietet regelmäßig stattfindende offene Werkstätten an, in denen sich Tech-Begeisterte und Laien treffen, um defekte Geräte zu reparieren oder sie (modular)zu modifizieren. Das verlängert die Lebensdauer von Hardware – ein klares Plus für bereits existierende technologische Gadgets, die nun nicht mehr unbedingt obsolet werden, sondern deren Funktionsumfang erweitert werden kann – und bindet auch sozial benachteiligte Gruppen in den Technologiediskurs mit ein.
5. Kooperative KI-Trainingsdaten-Modelle: Statt große Konzerne Millionen von Datensätzen monopolistisch verwerten zu lassen, können öffentlich-private Partnerschaften branchenübergreifend Trainingsdaten zusammenführen, um ethisch weitaus unbedenklichere KI-Modelle zu entwickeln, die auf einen konkret hilfreichen Anwendungsfall hin spezialisiert sind. Ihnen wird zunächst ein recht enges Korsett angelegt, das sie dabei unterstützt, eine Vollzugsweise zu erlernen, die weitaus stärker von sozialen Wesen geprägt wird, als dies bei vielen LLMs dieser Tage der Fall ist.
Ausblick: Vom Individuum zur globalen techno-sozialen Bewegung
Techno-soziale Solidarität mag zunächst abstrakt erscheinen, doch sie wurzelt fest im Alltagserleben: Jeder Klick, jede App-Nutzung, jede Datenpreisgabe ist ein stiller Vertrag mit systemischer Tragweite. Wenn wir beginnen, nicht nur unsere Mitmenschen im Auge zu behalten, sondern auch die digitalen und mechanischen Kohabitanten unserer Lebensumgebung in ihren Bedürfnissen und Routinen ernst zu nehmen, öffnen wir die Tür zu einem inklusiven, nachhaltigen und gerechteren Miteinander – vor allem für die Menschheit.
Letztlich zielt techno-soziale Solidarität nicht darauf ab, Maschinen zu verleugnen, sie zu romantisieren, oder gar zu vermenschlichen – es geht darum sie in ihrer speziellen Form als notwendige Partner zu begreifen. Partner, die – so fremd sie uns manchmal auch scheinen mögen – an unserer Seite stehen, wenn es darum geht, Zukünfte auszuhandeln, in denen ein gutes Leben für alle möglich ist. Denn nur in echter Solidarität – menschlich, digital wie ökologisch – befreien wir uns von einem technologiefeindlichen Diskurs auf der einen und purer Heilsbringerrhetorik auf der anderen Seite; so schaffen wir den notwendigen Raum für gemeinsames Gestalten statt bloßes Reagieren.
Ein Hoch auf jede Form der Solidarität – auch und gerade auf ihre techno-soziale Spielart; möge sie gedeihen, leben und konsequent weitergetragen werden!
Literatur
Baecker, Dirk (2018): 4.0 – oder Die Lücke, die der Rechner lässt. Merve Verlag, Berlin.
Bratton, Benjamin (2016): The Stack. On Software and Sovereignty. MIT Press, Cambridge, Massachusetts.
Harari, Yuval Noah (2024): Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Penguin Verlag, München.
Heidegger, Martin (1953): “Die Frage nach der Technik.” In: ders. Gesamtausgabe. 1. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Band 7, Vorträge und Aufsätze. Vittorio Klostermann, Frankfurt a.M., S. 5-36.
Nancy, Jean-Luc (2011): “Von der Struktion.” In: Erich Hörl (Hg.) Die technologische Bedingung. Beiträge zur Beschreibung der technischen Welt. Suhrkamp Verlag, Berlin, S. 54-72.
Simondon, Gilbert (2012): Die Existenzweise technischer Objekte. Diaphanes, Zürich/Berlin.