16.06.2025 • von Jonas Kellermeyer
Sprunginnovation Revisited

Heute beschäftigen wir uns mit der Frage, warum wir radikal neue Ideen und Sprunginnovation brauchen – und was wir diesbezüglich aus dem Silicon Valley lernen können.
Was ist eine Sprunginnovation?
Sprunginnovationen – im Englischen häufig als disruptive, breakthrough oder radical innovations bezeichnet – stehen für technologische oder gesellschaftliche Quantensprünge. Sie sind keine Weiterentwicklung des Bestehenden, sondern brechen explizit mit vertrauten Denk- und Handlungsmustern.
“Innovation is the ability to see change as an opportunity – not a threat.”
— Steve Jobs
In der Innovationsforschung gilt Joseph Schumpeter als Begründer der Idee von schöpferischer Zerstörung (creative destruction), also dem ständigen Erneuerungsprozess durch radikale Neuerungen, die alte Technologien und Märkte verdrängen (vgl. Schumpeter 1942). Eine solch positive Umdeutung von destruktiver Kraft ist gerade in der Gegenwart eine häufig anzutreffende Geisteshaltung, lässt sie sich doch nur allzu gut auf technologisch induzierte Disruptionen beziehen.
Kleine Ursachen und große Wirkungen einer Sprunginnovation
Sprunginnovationen zeichnen sich derweil durch drei Merkmale aus (vgl. Christensen 1997):
1. Radikalität: Sie bereiten den Weg für gänzlich neue technologische Paradigmen.
2. Unsicherheit: Ihr Marktpotenzial ist schwer prognostizierbar, d.h. es besteht ein nicht unerhebliches Risiko bei ihrer Umsetzung.
3. Systemrelevanz: Sie schaffen potenziell neue Chancen in Form von neuen Branchen- oder sogar Gesellschaftssystemen.
Typische Beispiele für Sprunginnovationen umfassen unterdessen häufig die folgenden Beispiele:
- Mikrochip (Fairchild, 1959): Ursprung der modernen Computertechnik
- Internet (ARPANET, 1969): Transformation von Kommunikation, Wirtschaft und Öffentlichkeit
- CRISPR/Cas9 (Jinek et al. 2012): Revolution der Genom-Editierung
- GPT-Modelle (OpenAI, 2018–2023): Neue Ära der Mensch-Maschine-Interaktion
Silicon Valley: Ein historisches Lehrstück für Sprunginnovation
Die Entstehung des Silicon Valley ist ein Paradebeispiel für das Zusammenspiel von Risikobereitschaft, öffentlicher Förderung und radikaler Forschung.
“The best way to predict the future is to invent it.”
— Alan Kay, Forscher bei Xerox PARC
Schon in den 1950er Jahren setzte Stanford-Professor Frederick Terman auf enge Zusammenarbeit zwischen Universität und Industrie – ein frühes Modell für Wissens- und Technologietransfer. Die Region profitierte massiv von:
- Militärischer Auftragsforschung (z. B. DARPA, NASA, DoD)
- Offener Wissenschaft (z. B. UNIX, TCP/IP an Universitäten)
- Wagniskapitalgebern, die bewusst in radikale, unbewiesene Ideen investierten
- Failure Culture, bei der Scheitern nicht als Makel betrachtet wurde, sondern Teil eines umfassenden Lernprozesses war.
Ein Wendepunkt war die Gründung von Fairchild Semiconductor (1957) durch die “Traitorous Eight”, deren Mitglieder später Intel, AMD und National Semiconductor gründeten. Daraus entstand eine Innovationsdynamik, die das gesamte 20. Jahrhundert technologisch prägte und die bis heute nachwirkt.
Warum Sprunginnovationen heute wichtiger sind denn je
Laut OECD (Science, Technology and Innovation Outlook, 2021) stehen wir am Beginn eines “Tsunamis an Schlüsseltechnologien” – von synthetischer Biologie bis Quantencomputing. Die Innovationszyklen werden kürzer, die gesellschaftlichen Herausforderungen größer.
“We cannot solve our problems with the same thinking we used when we created them.”
— Albert Einstein
Sprunginnovationen sind lange kein Luxus mehr, sondern werden vielmehr eine Notwendigkeit. Besonders in Bereichen wie dem Klimawandel (z. B. Direct Air Capture, alternative Energiespeicher), hinsichtlich funktionierender Gesundheitssysteme und entsprechender Versorgung (z. B. mRNA-Technologie), in der Bildung (z. B. KI-gestützte Lernsysteme mit individualisierten Lernpfaden) oder bezüglich Künstlicher Intelligenz & Robotik (z. B. für Pflege, Industrie, Kreativwirtschaft) können durch Sprunginnovationen schnell wichtige Beiträge geleistet werden.
Deutschland und Europa: Noch zu vorsichtig?
Generell ist zunächst einmal nichts auszusetzen an einer vorsichtig, bedachten Herangehensweise an neue Verfahren und alternative Lösungswege für bestehende Problematiken. Sieht man sich allerdings in einem weiterhin zunehmend globalisierten Konkurrenzverhältnis anderen Akteuren gegenüber, wird es wichtig, die eigenen Glaubenssätze kontinuierlich auf die Probe zu stellen. In der deutschen Innovationslandschaft dominieren oft immer noch inkrementelle Verbesserungen. Laut dem EFI-Gutachten 2023 (Expertenkommission Forschung und Innovation) ist Deutschland zwar stark hinsichtlich “Hidden Champions” und Ingenieurskunst, also in der traditionsreichen Optimierung bestehender Prozesse, aber zu zurückhaltend, wenn es um radikale Innovationsansätze geht.
Die Gründung der Agentur für Sprunginnovationen (SPRIND) im Jahr 2019 war ein Versuch, diese Lücke zu schließen. Das erklärte Ziel: Projekte mit hohem Risiko, aber großem Potenzial zu fördern – gänzlich losgelöst von klassischen Förderlogiken. Ein erstes Beispiel: ein vollständig neuartiges Beatmungsgerät innerhalb von 100 Tagen (Pandemieprojekt), oder auch ein KI-gestützter Mechanismus zur Erkennung sogenannter Deep Fakes.
Fazit: Sprunginnovation ist kein reines Business-Modell – sondern eine Haltung
Sprunginnovationen lassen sich nicht auf Knopfdruck erzeugen. Aber wir können die Bedingungen schaffen, durch die sie wahrscheinlicher werden: Von der Etablierung von Räumen zum Experimentieren, über ein gesteigertes Vertrauen in hehre Visionen und dem Bau von Brücken zwischen Disziplinen – Inter- und Transdisziplinarität –, bis hin zu einer Kultur, die den Mut zum Scheitern honoriert, gibt es viele Möglichkeiten, sich den Möglichkeiten, die sich morgen bieten schon heute zu nähern.
“Those who are crazy enough to think they can change the world usually do.”
— Apple-Werbekampagne, 1997
Die Geschichte des Silicon Valley zeigt, dass der nächste große Durchbruch oft dort beginnt, wo ein paar Menschen das Undenkbare denken – und bereit sind, alles zu riskieren.
Der als Sprunginnovation beschriebene Prozess ist weniger ein Ziel, als er vielmehr einen Aufbruch markiert. Wer heute in Sprunginnovationen und entsprechendes R&D investiert, gestaltet nicht nur die Zukunft – sondern macht sie überhaupt erst möglich.
Literatur
Christensen, Clayton M. (1997): The Innovator’s Dilemma: The Revolutionary Book that Will Change the Way You Do Business. HarperCollins Publishers, New York.
Jinek, Martin; Chylinski, Christoph; Fonfara, Ines; Hauer, Michael; Doudna, Jennifer A.; Charpentier, Emmanuelle (2012): “A programmable dual-RNA-guided DNA endonuclease in adaptive bacterial immunity.” In: Science, August 17, 2012.
OECD Science, Technology and Innovation Outlook 2021
Schumpeter, Joseph (1942): Capitalism, Socialism and Democracy. Harper & Brothers, New York.