02.06.2025 • von Jonas Kellermeyer
Ein informierter Blick auf Desinformation

Da wir uns in unserem gegenwärtigen Forschungsprojekt vor allem mit einer angewandten MR-basierten Trainingssoftware auseinandersetzen, die es möglich machen soll, sich selbstbestimmt durch einen von Desinformation durchwobenen Alltag zu navigieren und entsprechend irreführenden Content im Sparring mit einer KI dechiffrieren zu lernen, ist es zunächst einmal wichtig, sich einer Definition von Desinformation zu widmen. Damit verbunden ist auch die Frage danach, was “Wahrheit” überhaupt ist? Wann ist ein Inhalt als Desinformation zu klassifizieren, wann trifft ein solches Framing den Kern hingegen nicht?
Was ist “Wahrheit”? – Fakt, Fiktion und alles dazwischen
Wenn wir nach der Klassifizierung von Desinformation fragen, dann tun wir dies vor allem deswegen, weil es uns um die Bedeutung des Konzepts der “Wahrheit” geht. Wahrheit kann allgemein gesprochen als das Gegenteil dessen gelten, was faktisch falsch ist. Eine solch simplifizierende Heuristik wirft letztlich mehr Fragen auf als sie beantwortet: es mag noch recht einfach sein, sich auf offensichtliche Tatsachen einigen zu können – etwa, dass frisches Gras grün ist, oder der wolkenlose Himmel blau. Selbst diese simplen Aussagen können bei näherer Betrachtung als strittig gelten: die Farbe des wolkenlosen Himmels etwa changiert je nach Tageszeit und sicherlich werden spitzfindige Individuen zu betonen wissen, dass sich der Grünton verschiedener Pflanzen zu unterscheiden pflegt und man bei der Beschreibung doch bitte akkurater vorgehen solle. Mit jeder wertenden Aussage, die maßgeblich auf die Entstehung eines Weltbilds einzahlt, die also Fakten beinhaltet, wird eine einstimmige Einigung unwahrscheinlicher.
Unser auf Fakten aufgebautes Selbstbewusstsein ist eigentlich nichts weiter als eine kollektive Fiktion. Nicht von ungefähr rührt so auch die etymologische Nähe zwischen Fakt und Fiktion: beide Begriffe haben ihren Ursprung im lateinischen Wort facere, was soviel wie machen, herstellen oder fabrizieren bedeutet. Sowohl Fakten als auch Fiktionen sind also (künstlich) hergestellt, keineswegs sind sie wie Daten einfach gegeben (lat. datum=gegeben). Das Beispiel die Farben betreffend kann somit ebenfalls aufgelöst werden: es ist möglich die Wellenlänge der Farben eindeutig zu messen und den Farbwert somit numerisch festzulegen, die Interpretation der vom Sehnerv aufgenommenen Reize hingegen kann mitunter gravierend voneinander abweichen.
Es war Sokrates, der so weise sprach “Ich weiß, dass ich nichts weiß” und damit dem Unwissen einen wichtigen Stellenwert im Zusammenhang der Informiertheit einräumte. Getreu dieses Mottos steht ist, dass die Menge an Unbekanntem den verschwindend geringen Anteil von Bekanntem oder Gewusstem um ein Vielfaches übersteigt.
In eine ähnliche Kerbe schlug auch Donald Rumsfeld, als er am 12. Februar 2002 eine berühmt-berüchtigte Rede hielt, in der er die US-amerikanische Intervention im Irak mit fehlenden Beweisen von Massenvernichtungswaffen begründete: “[T]here are known knowns; there are things we know we know. We also know there are known unknowns; that is to say we know there are some things we do not know. But there are also unknown unknowns – there are things we do not know we don't know.”
In dieser letzten Kategorie versteckt sich einiges an Potenzial für die sogenannte Desinformation: wenn wir stets mit dem Gedanken durch die Welt laufen, dass es Dinge gibt, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen, dann fällt auch jegliche Heilsbringerrhetorik von “alternativen” Medien auf einen fruchtbar gemachten Boden.
Was Donald Rumsfeld, seines Zeichens konservativer US-Republikaner, hier macht, ist bestimmte Talking-Points der französischen (Post-)Strukturalisten zu übernehmen, die sich am anderen Ende des politischen Spektrums verorten lassen (vgl. u.a. Deleuze & Guattari 1992). So schrieb etwa Michel Serres die folgenden Zeilen: “We have seen the theory of knowledge, the theory of non-knowledge, and then that theory whereby knowledge finally says the same thing as non-knowledge” (Serres 1975: 185), und auch Michel Foucault war Zeit seines Lebens dafür bekannt, von Wahrheit als diskursivem Sachverhalt zu sprechen, der von hegemonialen Machtstrukturen durchdrungen ist (vgl. u.a. Foucault 1983, 1989, 1995).
Kurz gesagt: Galt Wahrheit in der antiken Vergangenheit noch als etwas Absolutes und Unumstößliches, unabhängig davon, ob der Mensch jene Wahrheit zu erkennen vermochte oder nicht, so finden die potenziell Wahrheitssuchenden der Gegenwart einen Dschungel von Ansätzen, Vorschlägen, Antworten, Problematisierungen und Skeptizismen vor, die allesamt eines gemein haben: sie sind potenziell hochgradig relativ verfasst.
Wenn aber alles wirklich relativ wäre, dann ließe sich auch für jede Weltsicht gleichermaßen argumentieren, Die Welt des Relativismus ist die Welt der alternativen Fakten und der Desinformation, wie wir sie gegenwärtig erleben.
Wir sind nicht un-informiert, sondern des-informiert
Man muss entsprechend der oben angestoßenen Gedankengänge also einen Unterschied machen zwischen einem Mangel an Information und einem Überschuss an Desinformation. In Zeiten vor der globalen Vernetzung in Echtzeit, die durch die Einführung der Massenmedien seit der Erfindung des Buchdrucks im Gange ist und die mit den Siegeszug des WWWs ihren Höhepunkt erreicht hat, ergibt die Rede von unzureichender Informiertheit noch einen Sinn: Das Wissen und die Macht – das Wissen als Macht – konzentrierte sich über lange Zeiträume hinweg in den Händen der weltlichen Herrscher und des Klerus. Mit der tendenziellen Demokratisierung des Wissens geht neben einer maßgeblich gesteigerten Selbstbestimmung auch die Gefahr einher, in einer regelrechten Informationsflut zu ertrinken. Es kann also wirklich keine Rede davon sein, dass die Menschheit heutzutage uninformiert daherkomme. Mit einem stetig wachsenden Angebot von medialen Outlets, die zumindest auf den ersten Blick gleichermaßen glaubwürdig erscheinen, bedarf es eines versierten Umgangs um die sprichwörtliche Spreu vom Weizen zu trennen. Eine neue Form der Medienkompetenz ist gefragt, um sich nachhaltig selbstbestimmt durch die Informationssphäre der Gegenwart navigieren zu können. Neben Halbwahrheiten und tendenziöser Berichterstattung, wie es sie auch in vordigitalen Zeiten gegeben hat, gesellen sich in jüngerer Vergangenheit auch solche Beiträge, die ganz bewusst Zweifel sähen sollen und dabei eine Agenda verfolgen, deren Ziel die Destabilisierung socher politischen Systeme ist, die auf einer Heterogenität der Perspektiven aufbaut. Zu diesem Zweck ist es wichtig, den Menschen das Gefühl zu geben, informiert zu sein, ohne dass sie tatsächlich informiert sind; Desinformation “leistet” genau das.
Lüge oder gefährliches Halbwissen?
Auch, wenn es verlockend scheint, Fehlinformation und Desinformation gemeinsam in den selben Topf zu werfen, sollte man sich über den Unterschied dieser beiden Spielarten von informationsbasierter Falschheit im Klaren sein: im Unterschied zu einer Lüge (resp. Desinformation), bei der derjenige, der sie ausspricht den Sachverhalt, den er verzerrt darstellt – die sprichwörtliche “Wahrheit” – zumindest kennen muss, kann gefährliches Halbwissen (bzw. Fehlinformation) in Missverständnissen resultieren, die ihrerseits in einer gravierenden Verschiebung des öffentlichen Diskurses münden. Beide Sachverhalte können einen negativen Effekt hinsichtlich des gesellschaftsweiten Zusammenhalts nach sich ziehen, jedoch changieren die Motivationen, die den beiden Sachverhalten zu Grunde liegen bisweilen grundlegend: der Unterschied liegt in einem Vorsatz hinsichtlich der Desinformation, die gut und gerne auch als Waffe in der hybriden Kriegsführung eingesetzt wird, und einer regelrechten Fahrlässigkeit hinsichtlich der Fehlinformation. Im letzten Fall sehen sich solche medialen Akteure, die Fehlinformationen verbreiten dazu berufen, nachträgliche Richtigstellungen vorzunehmen. Im Falle der Desinformation bleibt eine solche selbstredend aus.
Ein interessanter Blickwinkel auf diesen Themenkomplex findet sich bei Ute Cohen, die folgende Diagnose anstellt: “Mit Faktenchecks gelangt man […] schnell an Grenzen in einer postfaktischen, sprecherfixierten Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der die Angst wächst vor Existenzverlust, lässt auch die Sehnsucht nach Vertrauen gedeihen, nicht zuletzt auch nach dem Manipulateur [sic!], der mit sanfter Gewalt seine Anhänger in Sicherheit zu wiegen versucht. Die Lüge und schillernde Halbwahrheiten stillen das Verlangen nach Schutz. Beide sind daher mehr als nur ein Entertainment-Tool […]. Sie sind ein probates Mittel der Macht” (Cohen 2025: 36).
Garbage in, garbage out
Wenn wir über den aktuellen Stand der Dinge in Sachen Desinformation sprechen, dann darf ein Verweis auf künstliche Intelligenz (KI) natürlich nicht fehlen. Die generativen Möglichkeiten, die sich in der gänzlich durchdigitalisierten Gegenwart bieten – bildlicher wie textlicher Natur –, kommen nicht ohne Risiken daher. Wo Licht ist, da ist immer auch Schatten. So mächtig die Algorithmen auch sein mögen, sie spiegeln stets lediglich die Qualität der Daten, mit denen sie gefüttert werden: Fehlinformationen, Vorurteile oder böswillig manipulierte Inputs können zu glaubwürdigen, aber trügerischen Ergebnissen führen. Bereits heute sehen wir, wie Deepfakes reale Bild- und Tonaufnahmen so verfälschen, dass sie selbst für Fachleute kaum noch von der Wirklichkeit zu unterscheiden sind. Dies birgt die Gefahr, dass Wahrheit und Fiktion unmerklich ineinanderfließen und regelrechte Data-Biases entstehen – mit gravierenden Folgen für gesellschaftliches Miteinander und politische Diskurse. Um dem entgegenzuwirken, reicht technischer Fortschritt allein nicht aus: Wir brauchen ebenso robuste ethische Leitplanken, kontinuierliche Aufklärung und digitale Resilienz in Form von Faktenchecks, Transparenzpflichten und algorithmischer Verantwortung. Nur so kann heuristisch verhindert werden, dass aus dem Experiment eine Epidemie der Desinformation wird und wir kollektiv die Integrität unserer digitalen Kommunikation zu bewahren vermögen.
Vorläufiges Fazit
Die Tatsache, dass in einer multipolaren Welt viele Perspektiven auf ein und das selbe Thema geworfen werden können, sorgt dafür, dass so ziemlich jede Berichterstattung Widerspruch erfährt. Eine objektive “Wahrheit” zu suchen kann dementsprechend als törichtes Unterfangen gelten, das wenig Aussicht auf Erfolg hat. Viel eher kann es nur darum gehen, Falschheit in jener Hinsicht aufzudecken und als solche zu benennen, die in tendenziöser Hinsicht darauf abzielt, einer pluralen Gesellschaft entgegen zu wirken. Je stärker wir uns in unserem Alltag mit sochen Nachrichten umgeben, die automatisiert kuratiert werden, bei denen also künstlich intelligente Akteure beteiligt sind, desto wichtiger ist es, eine explizit multiperspektivische Brille aufzusetzen und den eigenen, durchaus vorhandenen Bias nicht durch algorithmische Mittel zu überzeichnen.
Literatur
Cohen, Ute (2025): Glamour. Über das Wagnis, sich kunstvoll zu inszenieren. Zu Klampen Verlag, Springe.
Deleuze, Gilles & Guattari, Félix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus & Schizophrenie 2. Merve Verlag, Berlin.
Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit Bd.1: Der Wille zum Wissen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (1989): Sexualität und Wahrheit Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Foucault, Michel (1995): Sexualität und Wahrheit Bd. 3: Die Sorge um sich. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M.
Serres, Michel (1975): “Jules Verne’s Strange Journeys.” In: Yale French Studies, No. 52, Graphesis: Perspectives in Literature and Philosophy. Bloomsbury, London, S. 188-217.